Am Rüßel der Wahrheit

Ein indischer Raja versammelte blinde Männer um sich, damit sie einen Elefanten untersuchen. Jeder untersuchte einen anderen Teil des Tieres und sie waren sich am Ende uneins wie ein Elefant denn nun sei. „Wie ein Topf“ sagte der, der den Kopf betastet hatte. „Nein, wie eine Pflugschar.“ meinte einer, nachdem er die Stoßzähne befühlte. Einer der Blinden sagte „Ein Elefant ist wie eine Säule„, obwohl es nur ein Bein war und so weiter. Jeder hatte einen völlig anderen Eindruck von dem, was ein Elefant sei. Dieses Gleichnis gibt es in einigen Varationen, doch der Kern ist immer der gleiche. Wahrheit ist nur das was wir erkennen können.

Egal was wir erkennen, schlußfolgern und tun, es ist immer Subjektiv. Dazu ein einfaches Beispiel. Ein Rostbraten, oder Steak muss Medium sein, ansonsten schmeckt es nicht. Das ist nunmal die Wahrheit, die einige nicht erkennen wollen und lieber „durch“ bestellen. Nunja, das kann man sich dann unter den Schuh nageln, aber bestimmt nicht essen. Wobei, deren Wahrheit sieht vielleicht etwas anders aus, ist es nicht durch, dann ist es es zäh. (Jetzt muss an dieser Stelle erwähnt werden, durch ist wirklich eine Todsünde am Fleisch, dieses Tier ist völlig umsonst gestorben.)

Laufen wir an einem Fluß entlang, weit und breit keine Brücke, aber wir wollen übersetzen. Ist das Wasser tief? Nein, man kann durchlaufen sagt einer und meint dabei Wasser bis zum Gürtel. Ein anderer bezichtigt ihn der Lüge, denn durchlaufen sollte nur bis zu den Waden nass machen. Und doch haben beide Recht, jeder hat seine eigene Wahrheit. Wenn es dann noch zu regnen anfängt, dann ist es für andere erst ein mildes tröpfeln.

Wahrheit kann niemals Objektiv sein. Denn selbst wenn man fixe, unumstößliche Tatsachen hat gibt es immer noch Raum für Subjektivität. Die Sonne und das ist Fakt, ist sehr weit weg, ca. 150.000.000 Kilometer. Von wegen, bis zum nächsten Stern sind es 40.000.000.000.000 Kilometer, das nenne ich weit weg. Und das ist nur der nächste Nachbar. Noch weiter weg will ich jetzt nicht gehen, sonst besteht dieser Beitrag nur noch aus Nullen. Trotzdem, für mich ist die Sonne nicht weit weg, obwohl die Entfernung für Erdverhältnisse gigantisch ist. Alles nur relativ.

Jeder Mensch sieht nur seine eigene Wahrheit. Aber kann man dies verübeln? Nein, wir sind einfach so. Passende Tatsachen werden verstärkt, unpassende abgeschwächt, manchmal sogar total ausgeblendet. Exakt in diesem Moment hat man nur noch den Rüßel des Elefanten der Wahrheit in der Hand. Können wir aber dennoch den ganzen Elefanten erblicken und erkennen? In den allermeisten Fällen wohl Nein. Man wird selbst zum Blinden. Man sieht nur den eigenen Schaden am Auto, sieht aber nicht den Unfallgegner dessen Auto noch mehr beschädigt wurde. Und sowieso Schuld hat.

Bei all der Wahrheit darf man nun eines nicht vergessen. Das menschliche Gehirn. Oft täuscht es uns durch mangelhaften Input, oder einfach nur durch ein schlechter werdende Erinnerungen. Mal ehrlich, wer weiss denn noch, was er am 4. Juni 2011 mittags gegessen hat? Hier müßen wohl (fast) alle passen. Aber es ist kein Wunder. Wenn es nicht gerade der Hochzeitstag war, dann ist diese Erinnerung nicht wichtig und verblasst im Laufe der Zeit. Leider passiert dies mit fast allen Erinnerungen im Alltag, wenn man sie nicht öfters (z.B. im Beruf) abruft. Das kennt man auch beim einkaufen, Milch ist wichtig, die Schokolade für die Kinder auch, aber der Zwieback für den Tee bleibt im Supermarkt ungekauft zurück. So ist es auch kein Wunder, dass sich Unfallzeugen dann ein halbes Jahr später vor Gericht nicht mehr richtig erinnern können, die Gesamtheit der Wahrheit nimmt also stetig ab. Dies bedeutet aber nicht automatisch, daß die Lüge im gleichen Maße zunimmt.

Dann kommt noch ein weiterer Faktor dazu, das Umfeld. Der Urlaub war schön und die Pizza bei Toni perfekt. Der Partner meint Enrico und durch ständige Wiederholung bei den Grillabenden bleibt Enrico im Gedächtnis, obwohl es in diesem Punkt nicht stimmt. Der lustige Bart, ja an den kann man sich noch gut erinnern, aber der Name? Im schlimmsten Fall liegen beide falsch und schon wird aus Luigi erst Toni, dann Enrico. Diese Falschinformation ist nun Teil der Wahrheit geworden, obwohl man es doch besser wissen könnte. Aus dem Schwanz des Elefanten der Wahrheit wird ein Pinsel. Auch unser Unfallzeuge wird beeinflußt. Berichte in den Medien, die aber nur einen Teil kennen und möglicherweise leicht verfälscht wieder geben. So wird ganz schnell aus einem dunkelblauen Auto das dunkelgrüne das auch beteiligt war. Jeder glaubt nun die die Wahrheit zu sagen, somit ist es keine Lüge und der Falsche darf den Schaden bezahlen, denn der Richter muss sich auf die Blinden verlassen, die ihm den Elefanten beschreiben.

Selbst erkennen wir das nicht. Wie oft sitzt man mit seinen Freunden zusammen und muss sich gemeinsam die alten Anekdoten aus der Jugend zusammen basteln, weil die Erinnerung verblasst, oder falsch ist. Jeder kennt einen Teil der Geschichte und selbst wenn man alle gefunden Puzzleteile zusammenfügt fehlen die Ohren am Elefant der Wahrheit. Es ist uns einfach nicht bestimmt die Wahrheit in ihrer Gänze zu erkennen, dazu ist unser Hirn zu klein und unvermögend. Aber solange wir das wissen macht es nichts, denn in der Gesamtheit unseres Umfelds können wir gemeinsam in Teamwork den größten Teil sehen. Seien wir also nicht böse, wenn wir den Rüßel für eine Schlange halten. Beraten wir uns kritisch gemeinsam und finden ein Lösung, um die Wahrheit zumindest in weiten Teilen erfassen zu können. Selbst wenn wir blind sind, tasten wir am Ohr weiter und entdecken die Stoßzähne. Wenn das jeder macht kennen wir den Elefant der Wahrheit. Und doch erkennen wir ihn immer noch nicht ganz, denn eines fehlt uns als Wahrheitsblinde: Das Wissen, das Elefanten in Wahrheit blau sind.

WahrheitEin Elefant? Ein Modell eines Elefanten? Ein Bild eines Modells eines Elefanten? Rasende Elektronen im Computer des Lesers?