Anna und der Engel

Zum ersten mal hörte Anna den Engel, als sie eine Modenschau sah. Schöne Frauen, wunderbare Kleider, es war ein Rausch der Sinne. Mit süßer Zunge redete der Engel auf sie ein, sprach von Glanz, Glamour, von Schönheit. Eine Sehnsucht durchdrang Anna, ein Sehnen wie sie es noch nie verspürt hatte und es tat weh. Sogar sehr weh.

Zuhause vor dem Fernseher sah sie die schönen Mädchen, allesamt wohl geformt und schlank. Anna war weder schlank noch schön, sie war einfach nur ganz normal. Doch der Engel sprach erneut zu ihr und versprach ihr schlank und schön zu werden, Anerkennung und Bewunderung sollten ihres werden. Anna wird, so sagte der Engel, eine Königin. So wie viele andere vor und nach ihr.

Aber mit ihrem Körper würde sie nie eine Königin werden, zu sehr hatte sie sich bislang gehen lassen. Zuviel Wurst auf dem Brot, ein ganzes Schnitzel am Sonntag Mittag. Sie begann die Butter weg zu lassen, die Portionen wurden kleiner und kleiner. Der Engel gab ihr Hinweise auf ein erfülltes Leben, ein Apfel am Tag, das genügt vollauf. Essen war böse, des Teufels gnadenloses Werk. Je mehr sie aß, umso weiter kam sie vom Weg ab.

Anne folgte dem Engel, nahm sein Wort für Gesetz, seine Rede für heilig. Er stellte seinen besten Freund vor, den Hunger. Mit jedem Bissen mahnte der Engel Anna. Nicht so viel, weniger ist mehr. Nur ein kleiner Brocken, gerade so das es in ihrem geschrumpften Bauch nicht weh tat. Und mit jedem Stückchen das sie schluckte ging ihr bester Freund etwas weiter Abseits, doch Anna schaffte es mit Hilfe des Engels ihren Freund immer wieder  aufs Neue zurück zu locken.

Anna fand auch viele Gleichgesinnte. Sie traf sich in Foren im Netz mit ihnen, tauschte sich aus. Sie gaben sich gegenseitig Ratschläge, um noch schöner zu werden, wie man den Hunger als Verbündeten und Vertrauten gewinnen kann, bis man zur Königin wird. Bilder gingen herum und Anna sah, daß andere schon viel schöner waren als sie. Der Engel wisperte ihr zu, beflügelte sie noch mehr zu tun. Wenn sie nicht mehr auf sich achtete, dann wird sie nie eine Königin werden.

Dann kam der Tag des Abschieds. Aus Anna wurde Anna die Königin. Aber als sie sich in ihrer Pracht erkannte erschrak sie. Sie flehte den Engel an, was hast du getan, hilf mir. Doch der Engel half ihr nicht und Anna erkannte ihren Irrtum. Erneut fragte sie den Engel, wer bist du, der du mich so verführt hast? Und zum letzten mal hörte sie den Engel der sprach: „Wer ich bin? Das weisst du selbst, hast es immer gewusst, wolltest nie meine Gestalt erkennen. Ich bin der der war, der ist und immer sein wird. Ich habe viele Namen, doch die meisten nennen mich Engel des Todes.“

Mit diesen Worten des Engels wurde es für immer dunkel um Anna.